Harvey betrat die Bar.
Der Trenchcoat hing locker
über seiner Schulter.
Ohne den Blick zu heben,
steuerte er zielstrebig auf die Theke zu und setzte sich auf einen der
Barhocker.
Er nahm seinen schwarzen Hut
ab und legte ihn vor sich hin.
„Hallo Harvey. Wie immer?“
„Wie immer!“
Die rothaarige Maria nahm eine
Flasche Highland Park aus dem Regal, schenkte das Glas voll ein und stellte es
ihm mit Schwung hin.
„Bitteschön! Der Erste geht
aufs Haus.“
„Danke, aber das ist nicht notwendig.
Ich habe heute Geld bekommen.“
„Na, wenn das so ist, darfst
du mir später gerne etwas Trinkgeld zustecken.“
Sie zwinkerte ihm frech zu, bekam
jedoch nur ein müdes Lächeln zur Antwort.
Harveys Hände griffen in seine
Jeanstasche und holten eine zerknüllte Marlboro Schachtel hervor.
„Darf ich?“, fragte er,
klopfte mit der Zigarette dreimal auf den Tisch und zündete sie an.
„Du darfst doch alles, Harvey.“
Doch auch auf den zweiten
Flirtversuch ging er nicht ein.
Maria ging sichtlich
enttäuscht ihrer Arbeit nach.
Er nahm einen großen Schluck und starrte danach in sein bereits nur noch halbvolles Glas. Er suchte nach einer Antwort, einem Sinn.
Im Hintergrund spielten sie seine Musik.
An einem anderen Tag wäre er aufgestanden, hätte sich Maria geschnappt und sie wild zur Musik herumgewirbelt, bis sie vor Lachen keine Luft mehr bekommen hätte.
Doch heute war eben nicht der Tag. Er war mit einem alten Freund verabredet. Daher wartete er und dachte nach.
Immerhin gab es viel worüber er nachzudenken hatte.
Er dachte an den Anruf bei
seiner Mutter. An ihre Stimme.
„Mama, ich bin es.“
„Mein Gott Junge!. Es ist schön
dich zu hören. Seit wann bist du draußen?“
„Seit zwei Wochen.“
„Zwei Wochen?“
Sie klang enttäuscht.
„Sehen wir uns?“
Er hörte die Tränen in ihrer
Stimme.
„Natürlich. Ich komme morgen
Abend vorbei.“
„Schön! Dann koche ich uns
etwas.“
„Das ist nicht nötig, Mama.“
„Aber natürlich. Es ist so
viel Zeit vergangen.“
Sie hielt inne.
„Ich freu mich auf dich, mein
Junge!“
„Ich mich auch.“
Er legte auf.
Harvey presste seine Hände auf
die Augen. Er durfte jetzt nicht weinen. Nicht hier, nicht in dieser Bar.
Doch es schmerzte ihn. Er
hatte in den letzten Monaten tatsächlich vergessen, wie die Stimme seiner
Mutter klang. Sein Brustkorb zog sich zusammen.
Und nun saß er wieder hier.
Wieder in der Bar. Wieder mit einem Whiskey vor sich. Dasselbe Spiel wie jeden
Abend.
Erneut sah er nervös auf die
große Bahnhofsuhr, die über der Theke hing.
„Erwartest du jemand?“
Maria wischte akribisch den
Tresen ab und schaute ihn besorgt an.
„Ja, ich warte auf einen alten
Freund.“
„Sag mir ja nicht zu viel. Ich
bin es ja gewohnt dir alles aus der Nase ziehen zu müssen.“
„Wir haben uns vor einer
halben Ewigkeit kennengelernt. Wir trafen uns das erste Mal in einer Bar. Ich
nahm wie heute zwei, drei ja vielleicht auch fünf Whiskeys und plötzlich stand
er neben mir. Er sah mich an und ich mochte ihn sofort.“
„Klingt ja nach der ganz
großen Liebe“, scherzte Maria und freute sich Harvey das erste Mal an diesem
Abend wirklich Lächeln zu sehen.
„Und was wurde aus diesem
magischen ersten Treffen?“
„Ja, magisch war das Treffen
wohl tatsächlich. Er brachte mich dazu Dinge zu tun, die ich mich ohne ihn
nicht getraut hätte.“
Er nahm einen großen Schluck und
stellte Maria das leere Glas auffordernd hin.
„Das tun doch alle Männer“,
sagte sie und schob ein volles Whiskeyglas über die Theke.
Doch Harvey blieb ernst und
fixierte die Uhr an.
„Was genau war es denn? Was hast du getan, Harvey?“
Vor seinem Auge zogen Bilder
vorbei. Momentaufnahmen , Augenblicke der Freude, der Trauer, der Angst.
Ihm wurde schwindelig. Mit
einer Hand stütze er sich am Tresen ab.
„War wohl doch einer zu viel?“,
sagte Maria schmunzelnd.
„Nein! Nein, du solltest wissen, dass ich noch nicht einmal im Ansatz die Menge getrunken habe, die ich üblicher Weise vernichte.“
Harvey hatte seine Balance
wieder gefunden und richtete sich auf dem Barhocker auf.
„Nein, es ist nur, dass ich
nicht darüber reden kann. Darüber, was ich mit meinem Freund getan habe. Es
würde mich traurig machen. Ich würde vermutlich zur selben Zeit weinen und
lachen. Wir hatten tolle Momente, ja wirklich. Ohne ihn wäre ich nicht der, der
ich jetzt bin. Ich hoffe sehr, dass er heute Abend hier erscheint, denn ohne
ihn kann ich unmöglich morgen zu meiner Mutter gehen.“
Maria sah ich erstaunt an.
„Moment mal! Du hast deine
Mutter angerufen?“
„Ja.“
Seine Stimme war dünn, als er an den Schmerz in der Stimme seiner Mutter
dachte.
„Das finde ich super Harvey,
wirklich! Du hast einen Neuanfang verdient. Du warst lange genug weg, hast für
deine Strafe bezahlt. Du verdienst es!“
Liebevoll strich sie über
seinen Arm.
„Ich weiß nicht ob ich
überhaupt irgendetwas noch verdient habe, nach all dem was passiert ist.“
Er blickte sehnsüchtig zur
Tür. Es wurde Zeit dass er bald auftauchte.
„Er kommt sicher bald“, sagte
Maria
„Warum willst du denn, dass dein ominöser Freund mit zu dir nach Hause kommt?“
Harvey sah Maria das erste Mal
an diesem Abend direkt in die Augen. Sie waren glasig und sie hatte Angst, dass
er bei dem ersten Wort, das seinen Mund verließ, in bitterliche Tränen
ausbrechen würde.
„Er ist derjenige der mich antreibt zu meiner Mutter zu gehen.
Ohne ihn kann ich nicht hin. Er gibt mir Hoffnung und Zuversicht. Normalerweise ist er immer sehr pünktlich. Ich trinke ja wie du weißt, ein zwei ja vielleicht auch fünf Whiskey, spätestens dann erscheint er, legt mir seine Hand auf die Schulter und sagt: Komm mein alter Freund, lass uns die Sache angehen. Er ist für mich da, wenn ich denke, dass ich nicht gut genug bin. Dann hebt er mich auf und bringt mich wieder auf die Füße. Verstehst du?“
Harveys Worte ließen Maria
schwer schlucken.
„So einen Freund hätte ich
auch gerne, Harvey.“
Er schob ihr sein halbvolles
Glas über die Theke.
„Dann beginn damit ihn
kennenzulernen. Trink mit mir!“
Maria nahm das Glas und kippte
es in einem Zug hinunter.
Sie verzog das Gesicht.
Harvey lächelte.
„Jetzt dauert es nicht mehr
lange, dann wird er die Bar betreten und du wirst endlich verstehen, zu was er
fähig ist.“